Gastbeitrag – Stellungnahme der IPPF zum Urteil des EGMR (ursprünglich hier veröffentlicht)
25. Juli 2024 – Die International Planned Parenthood Federation (IPPF) bedauert, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) die Chance verpasst hat, dafür zu sorgen, dass die Menschenrechte von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern von allen europäischen Mitgliedstaaten im Einklang mit der Europäischen Menschenrechtskonvention geachtet, geschützt und erfüllt werden.
Das Urteil erging, nachdem 261 Sexarbeitende, viele von ihnen Migrant*innen und/ oder Menschen, die einer geschlechtlichen Minderheit angehören, im Dezember 2019 eine Beschwerde beim EGMR eingereicht hatten, um das französische Prostitutionsgesetz von 2016 anzufechten, das vom französischen Verfassungsgericht Anfang 2019 bestätigt worden war und das die Kund*innen von Sexarbeitenden kriminalisiert und zu Menschenrechtsverletzungen der Sexarbeitenden führte.
IPPF und sein Mitgliedsverband in Frankreich, Le Planning Familial, gehörten zu den zahlreichen Gemeinden, Gesundheits-, Menschenrechts- und feministischen Organisationen, die den Antrag der Sexarbeitenden vor dem EGMR unterstützten und auf die extreme Verschlechterung der Lebens- und Arbeitsbedingungen von Sexarbeitenden seit Inkrafttreten der Kriminalisierung von Freiern hinwiesen.
Wir sind enttäuscht, dass der EGMR sich entschieden hat, seine Pflicht zu vernachlässigen, den Schutz der Menschenrechte aller Menschen ohne Diskriminierung zu gewährleisten. Dabei bleiben die führenden Menschenrechtsnormen und -standards zu den Rechten von Sexarbeitenden in den Empfehlungen der wichtigsten UN-Organisationen, darunter die Weltgesundheitsorganisation, UNAIDS und das UNDP, sowie von großen internationalen Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International, der Internationalen Lesben-, Schwulen-, Bisexuellen-, Trans- und Intersexuellenvereinigung (ILGA) World, Human Rights Watch und Transgender Europe, sowie IPPF.
Die Entscheidung des Gerichts war eine Gelegenheit, einen Präzedenzfall in der Menschenrechtsrechtsrechtsprechung für den europäischen Raum zu schaffen, der bekräftigt, was Sexarbeitende selbst seit Jahrzehnten fordern: dass Sexarbeitende ein Recht auf Achtung, Schutz und Erfüllung ihrer Menschenrechte haben, frei von Diskriminierung, einschließlich des Rechts auf Privatsphäre und Autonomie, des Rechts, frei von Gewalt und Diskriminierung zu sein, und der Rechte auf körperliche Unversehrtheit und Leben.
Micah Grzywnowicz, Regionaldirektor des IPPF European Network, sagte:
„Wir sind enttäuscht, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Angelegenheit stattdessen auf die Gesetzgeber vertagt hat, obwohl er anerkennt, dass das schwedische Modell gegen die Rechte von Sexarbeitenden verstößt. Anstatt dafür zu sorgen, dass die Menschenrechte von Sexarbeitenden in Europa von den Staaten gewährleistet werden, sind ihre Menschenrechte nun von ihrem geografischen Standort und dem Land, in dem sie leben, abhängig.
Es gibt eindeutige Beweise dafür, dass Kriminalisierungsgesetze negative Folgen für die Sexarbeitenden und ihre Familien haben und zu Verstößen gegen ihre Menschenrechte führen. Wir sind enttäuscht, dass die Stimmen, die Menschenrechte und die Autonomie von Sexarbeitenden von einem Gericht zurückgestellt wurden, das genau zu dem Zweck eingerichtet wurde, die Menschenrechte aller Menschen ohne Diskriminierung zu garantieren.“
Im Jahr 2022 verabschiedete IPPF eine Sex Work Policy, die sich auf evidenzbasierte Maßnahmen konzentriert, die die Menschenrechte von Sexarbeitenden am besten respektieren, schützen und erfüllen. Ausgehend von den Erfahrungen, die Sexarbeitenden auf der ganzen Welt gemacht haben, unterstützt unsere Politik nachdrücklich die Entkriminalisierung, zusammen mit einer Sozialpolitik, die strukturelle Ungleichheiten angeht, die sich in allen Bereichen der Gesellschaft manifestieren, einschließlich der Sexarbeit. Die Politik stellt insbesondere fest, dass „weit verbreitete Kriminalisierung, Stigmatisierung und Diskriminierung nicht nur ihre Menschenrechte auf ein Leben frei von Gewalt und Diskriminierung, das Recht auf Gesundheit sowie sexuelle und reproduktive Rechte verletzen, sondern auch die Fähigkeit von Sexarbeitenden einschränken, sich selbst zu organisieren, Zugang zu Finanzmitteln für die Bereitstellung von Dienstleistungen und Lobbyarbeit zu erhalten und sinnvoll mit Organisationen der Zivilgesellschaft (einschließlich Gewerkschaften) und politischen Entscheidungsträger*innen zusammenzuarbeiten“.
Es ist wichtig, dass wir uns an die Seite der Sexarbeitenden stellen, um sie in ihrem Kampf für die Freiheit von Diskriminierung und die Ausübung ihrer Menschenrechte zu unterstützen. IPPF steht in Solidarität mit allen Sexarbeitenden auf der ganzen Welt und fordert alle Regierungen auf, sofortige Schritte zu unternehmen, um die Menschenrechte von Sexarbeitenden zu gewährleisten.
Für Medienanfragen wenden Sie sich bitte an media@ippf.org
Über die International Planned Parenthood Federation
Die International Planned Parenthood Federation (IPPF) ist ein globaler Gesundheitsdienstleister und ein führender Verfechter der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und Rechte (SRHR) für alle. Wir sind eine Bewegung von 150 Mitgliedsverbänden und Kooperationspartnern mit einer Präsenz in über 146 Ländern.
Aufbauend auf einer stolzen Geschichte von 70 Jahren Erfolg verpflichten wir uns, eine lokal geführte, global vernetzte zivilgesellschaftliche Bewegung anzuführen, die Dienstleistungen anbietet und ermöglicht und sich für sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte für alle einsetzt, insbesondere für die Unterversorgten.
Wir setzen uns für eine Welt ein, in der die Menschen die Informationen erhalten, die sie brauchen, um fundierte Entscheidungen über ihre sexuelle Gesundheit und ihren Körper zu treffen. Wir setzen uns für sexuelle und reproduktive Rechte ein und kämpfen gegen diejenigen, die versuchen, Menschen ihr Menschenrecht auf körperliche Autonomie und Freiheit zu verweigern. Wir bieten eine Versorgung, die auf Rechten, Respekt und Würde beruht – egal, was passiert.
Die International Planned Parenthood Federation (IPPF) ist ein globaler Gesundheitsdienstleister und ein führender Verfechter der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und Rechte (SRHR) für alle. Wir sind eine Bewegung von 150 Mitgliedsverbänden und Kooperationspartnern mit einer Präsenz in über 146 Ländern.
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Weitere Stellungnahmen und kritischen Texte zum Urteil (zuletzt aktualisiert am 20.9.24)
Juristische Einschätzungen:
Dr Dimitrios Kagiaros and Dr Inga Thiemann: M.A. and others v. France: The ‘End Demand’ model of Regulating Sex Work goes to Strasbourg: https://strasbourgobservers.com/2024/09/03/m-a-and-others-v-france-the-end-demand-model-of-regulating-sex-work-goes-to-strasbourg/
Stellungnahmen:
ESWA, ILGA-Europe, Picum u.a.:Amnesty International: https://www.amnesty.org/en/latest/news/2024/07/europe-failure-to-recognise-harm-caused-by-criminalization-of-sex-work-is-a-missed-opportunity/
Joint Statement: Human rights groups regret outcome of European Court ruling on France’s criminalisation policies in relation to sex work
ESWA Pressekonferenz: https://www.youtube.com/watch?v=GA4B5qSIyWk
Médecins du Monde (französisch): https://www.medecinsdumonde.org/actualite/loi-prostitution-de-2016-nos-associations-deplorent-la-decision-de-la-cour-europeenne-des-droits-de-lhomme/
OCHCR: Special Rapporteur concerned by European Court decision on anti-prostitution law: https://www.ohchr.org/en/press-releases/2024/07/special-rapporteur-concerned-european-court-decision-anti-prostitution-law
Andere Texte:
Mein Text in der Frankfurter Rundschau: Menschenrechte für Prostituierte!
https://www.fr.de/meinung/menschenrechte-fuer-prostituierte-93228125.html
Brussels Times: ‚Leaving sex workers behind‘: European Court confirms French anti-prostitution law: https://www.brusselstimes.com/1155355/leaving-sex-workers-behind-european-court-confirms-french-anti-prostitution-law
blade: Out in the World: LGBTQ news from Europe and Asia https://www.washingtonblade.com/2024/07/29/out-in-the-world-lgbtq-news-from-europe-and-asia-35/
Soziale Medien:

Eine kurze Zusammenfassung des Urteils (Engl.): https://x.com/DKagiaros/status/1816419104711901403
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