In einer kürzlich veröffentlichten Studie in Feminist Criminology untersuchten Lexi Harari und ihre Co-Autoren die Verwendung von 911-Notrufen (911 ist die amerikanische Variante der deutschen Notrufnummern 110/112) in Chicago zwischen 2017 und 2020, die sich auf Sexarbeit beziehen. Sie beleuchten die diskriminierenden Muster in diesen Anrufen und zeigen auf, wie diese Anrufe als Instrument sozialer Kontrolle gegen eine besonders verletzliche Gruppe genutzt werden – cis- und transgeschlechtliche Frauen, die überwiegend in der Straßensexarbeit tätig sind. Diese Art der Kriminalisierung von Sexarbeit verstärkt nicht nur bestehende soziale Ungleichheiten, sondern offenbart auch tief verwurzelte moralische Urteile in der Bevölkerung, die oft weniger auf echte Sicherheitsbedenken als auf soziale Stigmatisierung zurückzuführen sind.
911-Anrufe als Instrument zur Kontrolle „unerwünschter“ Aktivitäten
Die Studie zeigt, dass viele 911-Anrufe von Bürgern und Geschäftsleuten getätigt werden, um vermeintliche Störungen ihrer „Lebensqualität“ zu melden. Zu diesen Störungen zählen oft auch Aktivitäten, die als Anzeichen für Sexarbeit gedeutet werden – wie das Verweilen an bestimmten Orten, die Kleidung oder das Verhalten von Personen. Solche Anrufe dienen dazu, den öffentlichen Raum von vermeintlichen Problemen zu „säubern“, ohne dass die Anrufenden direkt bedroht werden. Vielmehr scheinen sie von moralischer Empörung über Sexarbeit getrieben zu sein. Besonders häufig wurden diese Anrufe in gentrifizierten und sozial benachteiligten Vierteln gemacht, was zeigt, dass sozioökonomische Spannungen eine entscheidende Rolle spielen.
Die rechtliche Situation der Sexarbeit in den USA
In den USA bleibt die Sexarbeit in den meisten Staaten, einschließlich Illinois, größtenteils illegal. Ausnahmen bilden einige Landkreise in Nevada, wo die Prostitution legal in lizenzierten Bordellen ausgeübt werden darf. Diese Kriminalisierung führt jedoch zu keiner verbesserten Sicherheit für Sexarbeitende, sondern verschärft vielmehr die Ausgrenzung und Gefährdung dieser Personen. Sexarbeitende, die von Polizeieinsätzen betroffen sind, riskieren Verhaftungen, Gewalt und weitere Stigmatisierung, während ihre Arbeit weiterhin im Verborgenen stattfindet und sich oft in gefährlichere Räume verlagert.
Die rechtliche Verfolgung von Sexarbeitenden in den USA basiert weitgehend auf dem „End-Demand-Modell“, das sich darauf konzentriert, Sexarbeit zu verhindern, indem die Nachfrage nach den Dienstleistungen unterdrückt wird. Dies führt häufig dazu, dass Kundinnen und Dritte ins Visier genommen werden, aber die Anbieterinnen – oft Frauen aus sozial benachteiligten Gruppen – sind letztlich weiterhin die Leidtragenden.
Diskriminierung in Chicago: Rassismus und Klassismus
Die Ergebnisse der Studie verdeutlichen, dass 911-Anrufe über Sexarbeit in überwiegend schwarzen und sozioökonomisch benachteiligten Vierteln am häufigsten vorkommen. Solche Viertel erleben nicht nur eine überproportional hohe Polizeipräsenz, sondern auch die härtesten Auswirkungen dieser Form der sozialen Kontrolle. Dies deutet auf ein tief verwurzeltes Zusammenspiel von Rassismus, Sexismus und Klassismus hin, das die Lebensrealität vieler Sexarbeitender bestimmt.
Schlussfolgerungen und mögliche politische Maßnahmen
Die Studie zeigt, dass 911-Anrufe nicht immer zu Verhaftungen führen, aber dennoch die Möglichkeit bieten, dass Sexarbeitende regelmäßig mit der Polizei in Kontakt kommen – oft mit negativen Folgen wie Belästigung oder gewaltsamen Auseinandersetzungen. Die Forscherinnen fordern eine Abkehr von der Kriminalisierung hin zu einer entkriminalisierenden oder regulierenden Gesetzgebung, die die Sicherheit von Sexarbeitenden erhöht und ihnen den Zugang zu sozialen und gesundheitlichen Dienstleistungen erleichtert.
Die Entkriminalisierung oder Legalisierung von Sexarbeit könnte einen entscheidenden Schritt darstellen, um diese diskriminierenden Praktiken zu beenden. Ein solcher Schritt würde nicht nur den moralischen Urteilen der Gesellschaft entgegenwirken, sondern auch die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Sexarbeitenden verbessern.
Zur Studie (frei verfügbar):
Harari, L., Smith, C. M., Domingos, T., Oselin, S. S., & Hammond, E. (2024). Gendered Vice Complaints: 911 Calls Reporting Sex Work in Chicago Neighborhoods, 2017-2020. Feminist Criminology, 0(0). https://doi.org/10.1177/15570851241284404
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