Kritik, Texte und Forschung zum sog. „Nordischen Modell“

von Sonja Dolinsek

Das sogenannte „Nordische Modell“ wird zunehmend in der Öffentlichkeit diskutiert. Gemeint ist damit ein nahezu vollständiges Prostitutionsverbot, das allerdings die Prostituierten bzw. Sexarbeitenden nicht direkt, sondern nur indirekt bestraft. Die Ausübung der Prostitution bzw. Sexarbeit ist umfassend kriminalisiert, sodass keine Rede von Entkriminalisierung sein kann.

Das „Nordische Modell“ besteht aus mehreren Elementen. Der Großteil der Gelder fließt allerdings in die Strafverfolgung von Kund*innen, nicht in die Unterstützung von Prostituierten. Das „Nordische Modell“ beinhaltet folgende Elemente:

  1. Ein Vergütungsverbot (sog. „Sexkaufverbot oder Freierkriminalisierung):
    Sexuelle Dienstleistungen dürfen nicht bezahlt werden, selbst wenn Sexarbeitende/Prostituierte das wollen. Sexarbeitende bzw. Prostituierte haben kein Recht, eine Bezahlung einzuklagen. Damit geht der Verlust aller Rechte einher, die Dienstleistende gegenüber ihrer Kundschaft haben. Kunden werden lediglich wegen „Sexkauf“ bestraft (Geldstrafe), auch wenn z.B. eine Vergewaltigung vorliegt oder bei Minderjährigen.
  2. Illegalisierung aller Arbeitsorte:
    Weil es ein umfassendes Bordellverbot gibt, sind alle Arbeitsorte illegal. Es ist für Prostituierte bzw. Sexarbeitende nicht möglich, legal einen Arbeitsort zu mieten, auch nicht allein oder zu zweit. Das führt dazu, dass die Vermietung von Arbeitsorten ausschließlich im Bereich des Kriminellen und zu extrem erhöhten Preisen stattfindet. Sexarbeitende bzw. Prostituierte haben gegenüber den Vermieter*innen keine Rechte. Sexarbeit findet bei Kund*innen zu Hause, in Hotels oder verschiedenen illegal gemieteten Räumen statt. Oft findet Sexarbeit auf abgelegenen Straßen oder im Wald, wie z.B. im Pariser Bois de Boulogne statt. Es gibt keine rechtlichen Vorgaben für Arbeitsorte, z.B. baurechtliche Vorgaben oder Sicherheitsstandards. Was verboten ist, kann nicht reguliert werden.
  3. „Ausstiegsangebote“ für Prostituierte unter bestimmten Bedingungen und psychotherapeutische Beratung für Kunden
    Sexarbeitende, die bereit sind, ihre Tätigkeit sofort aufzugeben, werden beim Jobwechsel unterstützt, in der Regel durch Grundsicherung, die oft allerdings nicht ausreicht. Der sofortige Ausstieg ist eine Bedingung für die Unterstützung. De facto wird damit der Großteil der Prostituierten von den Unterstützungsangeboten ausgeschlossen, denn ein sofortiger Ausstieg ist für viele Sexarbeitende nicht möglich. Wenn dieser Ausstieg sofort möglich wäre, bräuchte es auch keine Ausstiegsangebote.
  4. Indirekte Kriminalisierung von Prostituierten bzw. Sexarbeitenden
    Sexarbeitende bzw. Prostituierte werden weiterhin indirekt kriminalisiert. Sexarbeitende, die zusammenarbeiten, einander unterstützen oder gemeinsam am gleichen Arbeitsort (z.B. in einer Wohnung) arbeiten, werden wegen Zuhälterei angeklagt.
    Migrant*innen erhalten außerdem keine Unterstützung, weil das sozialrechtlich nicht möglich ist. Wenn Migrant*innen in der Sexarbeit tätig sind, wird das verurteilt und als Abschiebungsgrund betrachtet, denn als Kompliz*innen einer Straftat („Sexkauf“) können sie einfacher abgeschoben und ausgewiesen werden.

Welche Folgen hat das Gesetz für Sexarbeitende?

Unterstützer:innen des Modells betonen, dass mit dem Verbot die gesellschaftliche Verurteilung der Prostitution gefördert wird. Dies wird als wünschenswert betrachtet. Doch gesellschaftliche Verurteilung bedeutet mehr Stigma, Ausgrenzung und Verachtung auch der Sexarbeitenden. In Ländern mit „Nordischem Verbot“ sind Kunden gewaltbereiter.

Kritiker:innen, darunter Feminist:innen und Menschenrechtspraktiker:innen, betonen, dass das „Nordische Modell“ die Ausübung der Prostitution wesentlich gefährlicher und unsicherer mache. Prostituierte würden stärker als zuvor stigmatisiert und ausgegrenzt. Die Folgen des Gesetzes seien daher extrem negativ.

Hier ist eine Liste von unabhängigen Studien, die sich kritisch mit dem sogenannten „Nordischen“ oder „Schwedischen“ Modell befasst haben. Es handelt sich hier um eine Auswahl zur Orientierung. „Unabhängig“ heißt: Die Forschung wurde im Kontext eines universitären Projektes durchgeführt und nicht im Auftrag einer Regierung oder eines Vereins bzw. einer NGO.

Leider gibt es bisher nur wenig Forschung in deutscher Sprache. Daher verlinke ich auch deutschsprachige Texte, die nicht im engeren Sinne als „Forschung“ zu betrachten sind.

Die Forschung bezieht sich auf folgende Länder: Frankreich, Irland, Kanada, Norwegen, Schweden.

Texte und Forschung auf Deutsch:

Amesberger, Helga: „Die“ politische Lösung gibt es nicht. Prostitutionspolitiken im Vergleich, URL: https://menschenhandelheute.net/2014/06/03/die-politische-losung-gibt-es-nicht-prostitutionspolitiken-im-vergleich/

Bündnis der Fachberatungsstellen für Sexarbeiterinnen und Sexarbeiter bufas e.V. ; Stellungnahme zum Positionspapier der CDU/CSU vom 7.11.2023 zum Sexkaufverbot (09 Nov 2023), URL: http://www.bufas.net/stellungnahmesexkaufverbot/

Le Bail, Hélène, und Calogero Giametta: Prostitution: Auf der Suche nach Frankreichs „Ausstiegsprogramm“, 2019/2022, URL: https://menschenhandelheute.net/2022/11/15/prostitution-auf-der-suche-nach-frankreichs-ausstiegsprogramm/

Deutsches Institut für Menschenrechte (DIMR): Prostitution und Sexkaufverbot. 17.10.2019, URL: https://www.institut-fuer-menschenrechte.de/publikationen/detail/prostitution-und-sexkaufverbot

Dodillet, Susanne. Deutschland – Schweden: Unterschiedliche ideologische Hintergründe in der Prostitutionsgesetzgebung, ApuZ 2013. https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/155371/deutschland-schweden-unterschiedliche-ideologische-hintergruende-in-der-prostitutionsgesetzgebung/

Interview mit Susanne Dodillet, Missy Magazine: “Schuss nach hinten” https://missy-magazine.de/blog/2014/02/28/schuss-nach-hinten/

Dodillet, Susanne. 2015. „Prostitutionspolitik in Deutschland und Schweden. Zum Ideologischen Hintergrund von Sexarbeit Und Sexkaufverbot“. In Prostitutionspolitik in Deutschland und Schweden. Zum ideologischen Hintergrund von Sexarbeit und Sexkaufverbot, 95–112. transcript Verlag. https://doi.org/10.1515/9783839405499-005.

Diakonie Hamburg. Warum ein Sexkaufverbot Sexarbeitende nicht vor Gewalt schützen kann. Stellungnahme der Diakonie Hamburg anlässlich des Internationalen Tags gegen Gewalt an Frauen, 25.11.2019. https://www.diakonie-hamburg.de/de/fachthemen/frauen/Warum-ein-Sexkaufverbot-Sexarbeitende-nicht-vor-Gewalt-schuetzen-kann

Die Fachwelt warnt vor einem Sexkaufverbot (2019): https://www.aidshilfe.de/meldung/fachwelt-warnt-sexkaufverbot

Künkel, Jenny. Nordisches Modell verschärft die Situation Marginalisierter https://sexcrimecity.wordpress.com/2021/06/02/nordisches-modell-verscharft-die-situation-marginalisierter/

Verbot von Sexarbeit: Was soll die Kriminalisierung bringen? https://www.fr.de/politik/sexarbeit-verbot-kriminalisierung-frankreich-schweden-australien-90225139.html

Forschung zum „Nordischen Modell“ (frei zugänglich):

Alix, Camille: „Le parcours de sortie de la prostitution. Étude de cas de la mise en œuvre d’un dispositif public“, Sciences Po 2022. PDF

Amnesty International. ‘The Human Cost Of “Crushing” The Market: Criminalization Of Sex Work In Norway’, 2016 (URL: https://www.amnesty.org/en/documents/eur36/4034/2016/en/ )

Le Bail, Hélène, and Calogero Giametta. ‘Searching for the entrance to France’s ‘prostitution exit programme’’, in: openDemocracy 27. Mai 2019 (URL: https://www.opendemocracy.net/en/beyond-trafficking-and-slavery/searching-for-the-entrance-to-frances-prostitution-exit-programme/)
Auf Deutsch hier: https://menschenhandelheute.net/2022/11/15/prostitution-auf-der-suche-nach-frankreichs-ausstiegsprogramm/

Calderaro, Charlène, and Calogero Giametta. ‘“The Problem of Prostitution”: Repressive Policies in the Name of Migration Control, Public Order, and Women’s Rights in France’. Anti-Trafficking Review, vol. 0, no. 12, Apr. 2019, S. 155–71. https://doi.org/10.14197/atr.2012191210.

Norbert Cyrus & Dita Vogel: Demand Arguments in Debates on Trafficking in Human Beings: Using an historical and economic approach to achieve conceptual clarification https://www.demandat.eu/publications/norbert-cyrus-dita-vogel-demand-arguments-debates-trafficking-human-beings-using

Giametta, Calogero, Le Bail, Hélène. 2022. „The National and Moral Borders of the 2016 French Law on Sex Work: An Analysis of the ‘Prostitution Exit Programme’“. Critical Social Policy, Mai. https://doi.org/10.1177/02610183221101167.

Vuolajärvi, Niina. 2019. „Governing in the Name of Caring—the Nordic Model of Prostitution and Its Punitive Consequences for Migrants Who Sell Sex“. Sexuality Research and Social Policy 16 (2): 151–65. https://doi.org/10.1007/s13178-018-0338-9. (Text auf Academia.edu)

Vuolajärvi, Niina. Criminalising the sex buyer: what must policymakers learn from the “Nordic model”? (inkl. Policy Brief), Nov. 2034: https://www.lse.ac.uk/research/research-for-the-world/politics/criminalising-the-sex-buyer

Holmström, Charlotta, and May-Len Skilbrei. ‘The Swedish Sex Purchase Act: Where Does it Stand?’ Oslo Law Review, vol. 4, no. 02, Aug. 2017, pp. 82–104, URL: https://www.idunn.no/oslo_law_review/2017/02/the_swedish_sex_purchase_act_where_does_it_stand (abgerufen 5.6.2020).

Holmström, Charlotta, and May-Len Skilbrei. ‘The ‘Nordic model’ of prostitution law is a myth’, in: The Conversation, 16. Dezember 2013 (URL: https://theconversation.com/the-nordic-model-of-prostitution-law-is-a-myth-21351).

Kingston, Sarah, und Terry Thomas. 2019. „No Model in Practice: A ‘Nordic Model’ to Respond to Prostitution?“ Crime, Law and Social Change 71 (4): 423–39. https://doi.org/10.1007/s10611-018-9795-6.

Vuolajärvi, Niina. 2022. ‚Criminalising the sex buyer: what must policymakers learn from the “Nordic model”?‘, https://www.lse.ac.uk/research/research-for-the-world/politics/criminalising-the-sex-buyer

Vuolajärvi, Niina. 2022. ‚Criminalising the sex buyer: Experiences from the Nordic Region“, Policy Paper, https://www.lse.ac.uk/women-peace-security/assets/documents/2022/W922-0152-WPS-Policy-Paper-6-singles.pdf

Forschung zum „Nordischen Modell“ (nur mit gültigem Bibliothekszugang):

Vogel, Dita, und Norbert Cyrus. 2017. „Demand Reduction in Anti-Trafficking Debates“. ERA Forum 18 (3): 381–96. https://doi.org/10.1007/s12027-017-0481-4.

Johansson, Isabelle, and Michael A. Hansen. 2024. ‘Predicting Attitudes Towards the Exchange of Sexual Services for Payment: Variance in Gender Gaps Across the Nordic Countries’. Sexuality Research and Social Policy 21 (2): 559–77. doi:10.1007/s13178-024-00940-5.

Hofmann, Robin. ‘„Das muss jeder wissen, der sich darauf einlässt.“ – Einige Kriminologische Anmerkungen zur Freierstrafbarkeit nach § 232a Abs. 6 StGB im Europäischen Kontext’. Neue Kriminalpolitik, vol. 30, no. 2, 2018, S. 180-188.

Matolcsi, Andrea. 2020. „Police Implementation of the Partial Sex Purchase Ban in England and Wales“. European Journal on Criminal Policy and Research, November. https://doi.org/10.1007/s10610-020-09471-2.

McBride, Bronwyn, Kate Shannon, Alka Murphy, Sherry Wu, Margaret Erickson, Shira M. Goldenberg, und Andrea Krüsi. 2021. „Harms of third party criminalisation under end-demand legislation: undermining sex workers’ safety and rights“. Culture, Health & Sexuality 23 (9): 1165–81. https://doi.org/10.1080/13691058.2020.1767305.

Raphael, Jody. ‘Returning Trafficking Prevalence to the Public Policy Debate: Introduction to the Special Issue’, Journal of Human Trafficking, 3:1, S. 1-20.

Skilbrei, May-Len, und Charlotta Holmström. 2016. Prostitution Policy in the Nordic Region: Ambiguous Sympathies. London: Routledge.

Sweeney, Leigh-Ann, and Brion Sweeney Batard. 2024. “Implications of Victim Blaming Narratives for Sex Workers: Informing Social Work Practice and the Law.” Practice 36 (5): 373–87. doi:10.1080/09503153.2024.2409170.

Stadtmann, Georg, und Hendrik Sonnabend. 2019. „Good Intentions and Unintended Evil? Adverse Effects of Criminalizing Clients in Paid Sex Markets“. Feminist Economics 25 (4): 1–20. https://doi.org/10.1080/13545701.2019.1644454.

Ward, Eilís. 2020. „‘Framing Figures’ and the Campaign for Sex Purchase Criminalisation in Ireland: A Lakoffian Analysis:“ Irish Journal of Sociology, Dezember. https://doi.org/10.1177/0791603520951754.

— zuletzt aktualisiert am 1. Mai 2025, ursprünglich veröffentlicht auf https://sonjadolinsek.wordpress.com/