
Ausschnitt aus dem neuen ProCoRe-Magazin SEXARBEIT zum Thema Freiwilligkeit und Sexarbeit:
«Wenn ich mit dem Kunden hochgehen wollte, bin ich hochgegangen»
Elena Matei1 verlässt mit 21 Jahren ihr Herkunftsland Rumänien und beginnt nach ein paar Tagen Betteln mit der Sexarbeit. 22 Jahre später arbeitet sie in der Schweiz als Kellnerin. Ein Werdegang, der von Wahlmöglichkeiten, Zwängen und schwierigen Entscheidungen geprägt ist. Was bedeuten für sie die Begriffe «freie Entscheidung» und «Zwang»?
ProCoRe: Elena Matei, aus welchen Gründen haben Sie Rumänien verlassen?
Elena Matei: Ich hatte damals einen gewalttätigen Freund. Als er mich das erste Mal geschlagen hatte, hatte ich ihm verziehen. Er tat es wieder und ich verzieh es ihm wieder. Erst als er in dem Restaurant, in dem ich arbeitete, einen Eifersuchtsanfall bekam, beschloss ich, ihn zu verlassen und zu meinen Eltern zurückzukehren. Er folgte mir und wollte mich nicht loslassen. Zusammen mit meiner Mutter schmiedete ich einen Plan: Am 8. März 2002 fuhr ich zu einem Bauernhof 170 km von zu Hause entfernt und dann nach Spanien. Meine Cousine war schon in Galizien und ich kam nun mit ihrem Bruder hinterher. Ich hatte genug Geld, um zu fliehen und wollte auch meinen Eltern helfen: Meine Mutter war krank, mein Vater Alkoholiker. Wir hatten zwar ein Dach über dem Kopf, aber wir waren sehr arm. Im Winter schliefen wir zu viert in der Küche und ich träumte von einem eigenen Zimmer.
Wie ging es in Spanien weiter?
Anfangs verkaufte ich Taschentücher am Strassenrand, neben einer Ampel. Das hat nicht funktioniert. Ich war gerade eine Woche dort, als eine junge rumänische Frau zu mir sagte: «Du bist jung, du bist schön. Warum fängst du nicht an, in der Prostitution zu arbeiten?» Ich fragte sie, wie das ginge und wo ich hingehen sollte.
Zuerst habe ich in einem Club gearbeitet, aber das hat mir überhaupt nicht gefallen: Ich sprach kein Spanisch und verstand zum Beispiel nicht, warum ein Kunde plötzlich aggressiv war. Nach drei Nächten beschloss ich, nicht mehr dorthin zurückzukehren. Dann begann ich mit der Strassenprostitution. Auf Spanisch sagten wir «Barrio Chino».
Ich war gerade eine Woche dort, als eine junge rumänische Frau zu mir sagte: «Du bist jung, du bist schön. Warum fängst du nicht an, in der Prostitution zu arbeiten?»
Unter welchen Bedingungen haben Sie gearbeitet?
Es war grossartig! Es gab eine Bar, wo wir Kaffee bekamen, Cola oder was immer wir wollten. Die Zimmer waren oben, wobei wir uns jeweils ein Zimmer mit mehreren Personen teilten. Grundsätzlich waren die Bedingungen gut und mit 100 Euro am Tag war ich zufrieden. Am Anfang war ich allerdings nicht sehr schlau: Ich wusste zum Beispiel nicht, wie man ein Kondom überzieht. Ich hatte noch nie eins benutzt.
Haben Sie mit Ihren Freund*innen und Verwandten über Ihre Arbeit gesprochen?
Ja, ich habe offen über meine Arbeit gesprochen. In Diskotheken kamen Jungs und machten mich an. Sie fragten mich, ob ich nach Spanien gekommen sei, um zu studieren. Ich antwortete, dass ich in einer bestimmten Bar arbeite. Dann kamen sie und tranken etwas. Auch meine Mutter und meine Schwester wussten Bescheid. Da ich die einzige Einkommensquelle meiner Familie in Rumänien war, verlangten sie regelmässig viel Geld von mir. Eines Tages liess ich meine Mutter nach Spanien kommen. Ich wollte, dass sie einen ganzen Tag mit mir arbeitet in der Bar, wo wir die Kunden anmachten. Sie sollte sehen, wie ich Geld verdiene. Ich wollte, dass sie versteht, dass ich nicht mit dem Finger schnippen kann, um Geld zu verdienen, dass sie mich nicht dreimal die Woche bitten kann, ihr Geld zu schicken.
«Ich wollte, dass sie versteht, dass ich nicht mit dem Finger schnippen kann, um Geld zu verdienen.»
Warum haben Sie sich entschieden, die Sexarbeit aufzugeben?
Das Alter. Mit 30 Jahren denkst du anders als mit 21 Jahren. Mein Haus war in Rumänien fast fertig gebaut… Aber der wirkliche Auslöser war, dass die Preise gesunken sind: Am Anfang kostete eine Dienstleistung einen gewissen Betrag. Dann kamen die gleichen Kunden für nur noch die Hälfte. Nach neun Jahren in Spanien bin ich 2011 in die Schweiz gekommen.
Welchen Beruf hätten Sie nach der Sexarbeit gerne ausgeübt?
Da ich ziemlich viele Sprachen spreche, wollte ich Rezeptionistin in einem Hotel werden. Bis heute habe ich es nicht geschafft. Ich müsste drei Monate lang einen Kurs in Genf besuchen. Das ist teuer, denn es würde bedeuten, drei Monate lang nicht zu arbeiten, die Fahrten zu bezahlen, eine Unterkunft zu finden… Das ist für mich unmöglich. Infolgedessen arbeite ich als Kellnerin.
Wie ist es, als Kellnerin zu arbeiten?
(Sie grinst) Nicht so toll, vielleicht mittelmässig. Ich habe mit vielen Gästen zu tun, die nicht immer nett sind. Kellnern ist harte Arbeit und schlecht bezahlt. Sehr schlecht bezahlt.
«Kellnern ist harte Arbeit und schlecht bezahlt. Sehr schlecht bezahlt.»
Was hat Ihnen an der Sexarbeit am besten gefallen?
(Sie lacht) Diese Freiheit, zur Arbeit zu gehen, wann ich will. Am Anfang bin ich mittwochs, donnerstags, freitags, samstags und sonntags in die Disco gegangen. Wenn ich am nächsten Tag keine Lust hatte, aufzustehen, konnte ich um 12 Uhr oder um 17 Uhr zur Arbeit gehen. Das konnte ich mir aussuchen. Wenn ich mit dem Kunden hochgehen wollte, bin ich hochgegangen. Wenn ich keine Lust hatte, ging ich nicht. Niemand wurde gezwungen.
Sexarbeiter*innen sind sehr solidarisch. Wir erzählen uns viel über unsere Familien, Ehemänner oder Freund*innen. Wir helfen uns gegenseitig. Im Restaurant kommen die Leute, essen und gehen wieder. Vielleicht sieht man sie in drei Monaten wieder oder nie. Das Beste an meiner jetzigen Arbeit ist trotzdem die finanzielle Stabilität. Ich weiss, dass ich jeden Monat einen festen Betrag bekomme.
Viele Menschen können sich nicht vorstellen, dass jemand freiwillig Sexarbeit macht. Würden Sie sagen, dass Sie die Sexarbeit freiwillig ausgeübt haben? Und was bedeutet das für Sie, freiwillig?
Ja, ich habe das selbst entschieden. Niemand hat mich gezwungen, bestimmte Kunden zu bedienen, bestimmte Arbeitszeiten einzuhalten usw. Ich habe selbst entschieden, wann und wie ich arbeiten wollte. Ich konnte mein Geld ausgeben, wie ich wollte.
«Sexarbeit ist ein relativ einfacher Weg, weil ich das Milieu schon kenne.»
Planen Sie eines Tages, wieder als Sexarbeiterin zu arbeiten?
Wenn ich irgendwann merke, dass es zu schwer ist, dass die Arbeit zu anstrengend ist, dass der Chef mich auslaugt, dann werde ich nicht nein sagen. Ich werde jetzt kein Studium beginnen. Das habe ich auch vorher nicht gemacht. Sexarbeit ist ein relativ einfacher Weg, weil ich das Milieu schon kenne.
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Die meisten Menschen können sich vorstellen – wenn sie denn müssten – in einem schlecht bezahlten, harten Job zu arbeiten. In der Fabrik. In der Restaurantküche. Im Senior*innenheim. Aber würden sie für sich selbst auch Sexarbeit in Betracht ziehen? Wir hören und lesen immer wieder, Sexarbeit, das mache niemand freiwillig, das sei immer Zwang. Doch was heisst freiwillig? Wo ist die Grenze zum Zwang? Und am wichtigsten: Inwiefern schadet diese Diskussion den Menschen in der Sexarbeit?
Mit diesen Fragen beschäftigen wir uns im Magazin «freiwillig?». Nebst Elena Matei sprechen wir mit der Politikwissenschaftlerin María do Mar Castro Varela und der Beraterin Eliane Burkart vom Verein Lisa, unserer Mitgliedsorganisation in Luzern.
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Das ganze Magazin können Sie hier herunterladen.
1 Der Name ist anonymisiert. Der richtige Name ist ProCoRe bekannt.
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