Prostitution in Schweden: Warum Simon Häggström kein Vorbild ist

Simon Häggströms Buch „Auf der Seite der Frauen. Als Ermittler im schwedischen Rotlichtmilieu“ verfolgt eine klare politische Zielsetzung, indem es das sogenannte Nordische Modell der Prostitutionspolitik unterstützt. Der Text gliedert sich in mehrere Abschnitte: Zwei Vorworte eröffnen das Werk, darunter eines der Herausgeber*innen und ein weiteres der Aktivistin und ehemaligen Prostituierten Huschke Mau, welche die deutsche Polizei kritisch betrachtet und zugleich das Nordische Modell in Schweden lobt. Der Hauptteil umfasst individuelle Erfahrungsberichte, insbesondere Bellas Geschichte, sowie Simon Häggströms persönliche Schilderungen seiner Tätigkeit als junger Polizist im Jahr 2009, bevor der Band mit Reflexionen und einer Schlussbemerkung schließt.

Zum Kontext der Veröffentlichung

Simon Häggströms Buch „Auf der Seite der Frauen“ erscheint zu einem politisch alles andere als zufälligen Zeitpunkt: Unmittelbar nach der Bundestagswahl, im März 2025, mitten in den entscheidenden Wochen der Koalitionsverhandlungen, startet Häggström eine Lesereise durch Deutschland, die offensichtlich auf politische Einflussnahme zielt. Es ist davon auszugehen, dass insbesondere konservative Parteien wie die CDU und möglicherweise auch die SPD gezielt auf die Unterstützung Häggströms setzen, um das sogenannte Nordische Modell – die Kriminalisierung von Kund*innen sexueller Dienstleistungen – politisch salonfähig zu machen. Dass ausgerechnet in diesen Wochen eine Veranstaltungsreihe mit Häggström, dem Leiter der Stockholmer Prostitutionseinheit, in zahlreichen deutschen Großstädten wie Berlin, Hamburg und München stattfindet, spricht für eine klare politische Strategie: Das Modell, das offiziell Frauen schützen soll, dient hier als Mittel zur Durchsetzung restriktiver und moralisch geprägter Politik gegenüber Sexarbeiter*innen.

Auffällig ist das Bündnis, das sich rund um Häggströms Veranstaltungen gebildet hat. Unter dem Deckmantel eines vermeintlich progressiven Feminismus wird hier eine moralistische Agenda verfolgt, in der Sexarbeitende weniger als selbstbestimmt handelnde Akteur*innen erscheinen, sondern vielmehr als passive Opfer, die durch staatliche Repression „gerettet“ werden müssen. Häggström als Vertreter dieses Modells verkörpert genau diese macho-autoritäre Haltung, das Wohl von Frauen bestimmen zu wollen und deren Handlungsspielräume paternalistisch einzuschränken, sie zu disziplinieren, anstatt strukturelle Ursachen wie Armut, patriarchale Gewalt und globale Ungleichheit ernsthaft anzugehen.

Zum Buch

Häggström steigt 2009 in die polizeiliche Prostitutionsbekämpfung ein, als, wie er schreibt „die Straßenprostitution im Stadtkern Stockholms zugenommen hatte“. Halten wir fest: 10 Jahre nach Einführung des Nordischen Modells nahm die Strassenprostitution zu. Wir können auch festhalten, dass das Nordische Modell Prostituierte nach wie vor polizeilich gängelt und schikaniert. In Häggströms autobiografischer Schilderung seiner frühen Erfahrungen in der Prostitutionseinheit Stockholms im Jahr 2009 wird deutlich, dass das Nordische Modell keineswegs frei von repressiven Praktiken gegenüber Sexarbeitenden ist. Konkret beschreibt Häggström eine Szene, in der er aggressiv gegen eine junge, drogenabhängige Mutter vorgeht, die während der Sexarbeit auf der Strasse ihr Kind im Kinderwagen bei sich führt. Häggström schildert eine Szene und Interaktion voller Gewalt, Verachtung und einer Drohung. Hier der Auszug:

„Wie kannst du so etwas tun? Deine kleine Tochter mit auf die Malmskillnadsgatan zu nehmen, wenn du Freier aufreißt? Was ist los mit dir? Bist du bescheuert? Kapierst du, was du hier machst? Hol deinen Ausweis raus … SOFORT!“
Die Frau ist völlig verängstigt. Wiederholt immer wieder:

„Tut mir leid. Tut mir leid. Tut mir leid.“

Ich rede weiter auf sie ein. Ich werde eine Mitteilung an den Sozialdienst schicken. An die Bewährungshilfe. An den Strafvollzug. Ich werde jeder Institution, mit der sie je etwas zu tun gehabt hat, mitteilen, was für eine schlechte Mutter sie ist. Welche Gefahr sie für ihr Kind darstellt. Tränen strömen über ihre Wangen. Sie beugt sich nach vorn, vergräbt das Gesicht in den Händen. Und fleht.

„Bitte schlagen Sie mich nicht.“

Diese Interaktion ist kein Ausdruck eine feministischen Haltung. Diese Szene beschreibt staatliche, sexistische Gewalt. Diese Form der Intervention reproduziert staatliche Gewalt auf psychologischer Ebene und stellt zugleich infrage, ob das Modell wirklich dem Schutz von Frauen dient oder eher moralische Vorstellungen durch staatliche Repression umsetzt.

Häggström war zumindest zu beginn seiner Tätigkeit ein ganz typischer Anti-Prostitutionspolizist: Einer, der für die Sexarbeitenden keinen Respekt übrig hatte. Einer, der Frauen disziplinierte. Einer, der Frauen drohte. Einer, der Gewalt gegen Frauen ausübte, wenn sie sich nicht so verhielten, wie er es erwartete. Ist er heute anders drauf? Ich würde sagen: Nein. Auch wenn er im Schafspelz auftritt.

Diese paternalistische und macho-autoritäre Haltung, die Häggström gegenüber den betroffenen Frauen einnimmt, entspricht historischen Mustern staatlicher Kontrolle weiblicher Sexualität, wie sie bereits im 19. und frühen 20. Jahrhundert in unterschiedlichen europäischen Ländern praktiziert wurden, wo Frauen aufgrund vermeintlich moralischer Verfehlungen sozial und staatlich diszipliniert wurden. Trotz der vorgeblich unterstützenden Absicht zeigt sich hier eine tief verwurzelte Ambivalenz, in der staatliche Behörden zugleich Schutz und Repression verkörpern, und die Handlungsmacht der Betroffenen grundsätzlich negiert wird.

In Bellas persönlicher Geschichte offenbaren sich weitere Widersprüche und Inkonsistenzen des Narrativs. So bleibt die Chronologie ihrer Erfahrungen undeutlich: Bella zieht mit 17 Jahren nach Schweden, heiratet, gerät in eine manipulative Beziehung zu Vlad, der sie in die Prostitution drängt, und arbeitet später zwischen Schweden und Frankreich, ohne dass genaue Jahresangaben oder genaue Kontexte genannt werden. Zeitliche Angaben sucht man vergebens, obwohl es wichtig ist, zu wissen, wo und wann das alles passiert, um politische Schlüsse daraus ziehen zu können. Gerade der Abschnitt über Frankreich ist hier bezeichnend: Obwohl das Nordische Modell dort im Zuge der späteren Gesetzgebung Freier kriminalisiert, bleibt unklar, ob dies bereits zu Bellas Zeit der Fall war. Auch ihre wiederholte Tätigkeit in Stockholm widerspricht der Behauptung, dass das Modell dort erfolgreich sei, da sie regelmäßig und finanziell lukrativ in Schweden arbeitet, was belegt, dass der Markt weiterhin funktionierte und ausbeuterische Strukturen nicht beseitigt wurden. Bella ist trotz, oder vielleicht wegen des Nordischen Modells in die Situation geraten, in der sie war. Nichts in dieser Geschichte deutet daraufhin, dass das Nordische Modell ihre Ausbeutung verhindert hat.

Zudem gerät Bella, trotz ihres eindeutigen Opferstatus, selbst ins Visier der schwedischen Justiz: „Einmal, als Vlad zusammen mit mir in Stockholm war, wurden wir von der Polizei gefasst und schließlich verurteilt — er für Zuhälterei und ich für Beihilfe zu dieser Straftat.“ Diese Kriminalisierung zeigt, wie strukturelle Gewalt und staatliche Repression sich selbst gegen diejenigen richten, die offiziell geschützt werden sollen. Bellas Schilderungen über ihre psychischen Zusammenbrüche während der Untersuchungshaft verdeutlichen, dass staatliche Eingriffe, statt Sicherheit zu gewähren, weitere Belastungen schaffen können.

Schließlich enthält Bellas Erzählung noch eine weitere wichtige Inkonsistenz, die das vereinfachende Bild von ausschließlich gewalttätigen Freiern in Frage stellt: Bella erwähnt ausdrücklich die Sicherheit, die ihr sogenannte „gute Stammfreier“ geben würden, da diese ein geringeres Risiko bedeuteten als unbekannte Freier. Diese Beobachtung widerspricht der dominierenden Rhetorik des Nordischen Modells und verweist auf eine komplexe Realität, in der Sexarbeitende strategische Entscheidungen treffen, um ihre Sicherheit zu erhöhen. Diese differenzierte Wahrnehmung der Realität der Prostitution wird von Häggström nicht vertieft, da sie offenbar nicht in die politische Botschaft seines Buches passt.

Häggström ist sicherlich vieles, aber anders als der Buchtitel verspricht, sicher nicht auf der Seite der Frauen. Denn wäre das so, würde er mit aktiven Sexarbeitenden reden, mit ihnen auf Tour gehen und sie ernst nehmen. Aber nichts davon kann und will er.

* aktualisiert am 10.03.2025, 11:15 Uhr.

Antwort

  1. Avatar von ingeluett

    Dass ein 2016 in Schweden veröffentlichtes Buch neun Jahre später als Übersetzung für den deutschen Markt erscheint, sagt ja noch nichts aus über seine Aktualität. Aber wer sah wohl die Notwendigkeit der Übersetzung einer nun mindestens neun Jahre alten Situationsdarstellung aus Schweden für den deutschsprachigen Markt? Wer steht hinter dieser Veröffentlichung, der Verlag? Na klar, denke ich. Allerdings ist die “Edition Wortschatz” ein Dienstleistungsverlag im Neufeld Verlag – der seinerseits Mitglied ist in der Vereinigung Evangelischer Buchhändler und Verlage, aber das ist hier nicht das wichtige Detail. Dienstleistungsverlag, das bedeutet, nicht der Verlag legt die Kosten vor, sondern Autor:innen. Oder sonstwer. Aber wer hier?Laut Impressum wurde der Text “Für die deutsche Ausgabe überarbeitet und ergänzt von Kerstin Neuhaus”, herausgegeben wurde der Band von “AugsburgerInnen gegen Menschenhandel e. V. in Kooperation mit Neustart e. V. und Gemeinsam gegen Menschenhandel e. V.”Das klingt nicht nach dem Versuch, ein ausgewogenes Bild der aktuellen[!] Situation zu schildern – und schon gar nicht danach, was für Folgen das “Nordische Modell” der Prostitutionspolitik auf das Leben der Dienstleistenden tatsächlich hat.

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